freundliche Geschichten

Wie war das schon nur, mit den freundlichen Geschichten? Bachmann, Malina. Ein schönes Buch für Milan. Anna erinnert sich nicht genau. Aber so ähnlich, oder? Auch die Bachmann hätte gerne einmal (einmal!) ein schönes Buch geschrieben. Da Anna so lange nicht mehr geschrieben hat, wühlt sie wieder im Dreck. Das ist immer so, wenn sie wieder zu schreiben beginnt. Als wäre sie zwanzig und würde zum ersten Mal die Wut der späten Pubertät zu Papier bringen. Wann immer sie lange Pausen hat, im Schreiben, entsteht wieder lauter Dreck. Oder was mutter „Dreck“ nennen würde. Und es auch immer noch tut, jeden Tag, innen, in ihr. Anna weiß viel zu oft nicht, was sie selber eklig findet und was wieder die Stimme von mutter ist. Sie wird mutter immer hören, da gibt sie sich keinen Illusionen hin. Sie war nun mal ein schlimmes Kind gewesen, direkt von Anfang an, von der ersten Nacht an quasi, weil sie nicht durchgeschlafen hat, als Neugeborenes, und auch keine vier Stunden durchgehalten hat. Und geschrieen. Geschrieen geschrieen geschrieen. So ein Kind kann man ja nicht lieb haben. Geschweige denn aushalten. Noch heute wird Anna wütend, wenn sie ältere Leute sagen hört, oh, ist das ein braves Baby. Brav!, als könnten Babys brav sein – oder nicht brav. Sie jedenfalls, geborene Anna Gehrens, Gehrens wie ihr Vater, Anna wie ihre Urgroßmutter, sie jedenfalls war von Anfang an schlimm gewesen. Mit gaaanz viel Dreck. Auch das von Anfang an. Kein einziges Sonntagskleid, das auch nur einen halben Tag lang sauber geblieben wäre. Manchmal nicht mal heile. Sonntagskleidchen. Sonntagsmanieren. Anna Gehrens könnte spucken. Wie so oft fragt sie sich wieder, ob ihr Buch je ein Buch werden wird. Mit so viel Dreck und Spucke. Anna hat das alte Manuskript hervorgeholt, die Zeilen von vor fünfzehn Jahren. Weil sie gerade so viel Zeit hat. Mit dem Cello ist nichts mehr los, keiner bucht sie, sie hat längst Grundsicherung beantragt. Wie damals. Und das ist doch alles lange her. Doch nun hat sie wieder Zeit. Sie blättert durch die Seiten, vierhundert Druckseiten Rohtext, und beginnt zu streichen, zu ergänzen, neu zu formulieren. Vielleicht hat Grundsicherung auch etwas Gutes. Sie muss sich um nichts mehr kümmern, nicht mal mehr ums Essen, das holt sie bei den Engeln, alles andere kann sie sich nicht mehr leisten. So hat sie Zeit, die Anna Gehrens, seit langem zum ersten Mal. Das Cello schweigt. Und Anna schreibt, schreibt um, zweifelt, schreibt neu, streicht, zweifelt, schreibt weiter.