Fragmente

Tagsätze.
Nacht- und Abendsätze.
Weinsätze.
und immer wieder neue Regensätze.
Regen Regen Regen.
wenn er sie sauber waschen könnte.
der Regen.
in tausenderlei Jahren.

unverstanden ungesehen

unverstanden ungesehen
die innere Wahrheit eine Lüge
ohne Spiegelung kein Innen
leer blieb die bessere Option.

Optionen. sie hat nie Optionen gehabt.
oder doch. sonst wär sie nicht hier.
nicht da nicht dort.
nirgends mehr

sie muss ein paar gute Entscheidungen
getroffen haben. für sich
für andere?
für andere weniger.

erst heute. für ihre Kinder.
kann sie Entscheidungen treffen, die
auch für andere gut sind.

leere Kugel

leere Kugel.
außen warm und innen kalt.
außen reich und faszinierend –
innen hohl und keins der Versprechen haltbar.

kuscheln endet in Kühle
Nähe in Distanz
die Männer haben es nie verstanden
die Frauen und Mädchen auch nicht.

sie wäre gern verstanden worden.

Eine Rolle rückwärts.

Eine Rolle rückwärts. Der kleine Junge strahlt und probiert es gleich nochmals. Er rollt über die rechte Schulter, sehr geschickt sieht das aus. Er lacht und rennt zum Opa, der zuschauen soll statt nur vor sich hin zu starren. Der Opa war lange im Gefängnis gewesen. Alle rund um den kleinen Jungen sagen, dass er unschuldig verurteilt worden war. Der kleine Junge glaubt ihnen das, er spürt doch, dass der Opa keinem was zuleide tun kann. Der ist lieb, wenn er ihn denn wieder rausziehen kann, aus diesem Gefängnisblick. Der kleine Junge nennt das den Gefängnisblick.

Oh, mein Enkel. Ja, ja, ich komme ja schon. Wie groß er schon ist. Ja, du hast ja recht, ich komme jetzt und schaue. Was sagst du? Eine Rolle rückwärts in der Luft? Du meinst einen Salto? Das darfst du noch nicht üben, das hat dir deine Mama doch verboten. Hab ich wieder zuwenig gut auf ihn aufgepasst. Wenn da was passiert wäre. Aha, er übt erst mal am Boden. Das ist mir lieber. Das gelingt ihm gut, der ist geschickt. Schön, ihm zuzuschauen. Mein Freund, in der Grundschule, der konnte in der dritten schon Salto aus dem Stand. So einer wird mein Enkel auch, glaube ich.

Sie hat Schmerzen.

Sie hat Schmerzen. Hinter den Augen, in der Stirn, in Armen und Beinen. Sie rennt, innerlich, und zittert. Sie sitzt auf einer Bank, am Spielplatz, und sieht den Kindern zu. Sie wirkt ruhig und entspannt. Friedlich. Die Leute setzen sich gerne zu ihr. Sie ist freundlich mit den Kindern, mit allen, den eigenen und den fremden. Keiner sieht, dass sie rennt. Und zittert. In ihren Muskeln. In ihrer Seele. Und außen freundlich. Welch ein Kraftakt. Sie schaut auf die Kinder, sieht ihrem Spielen zu. Und wundert sich, wie weit sie gekommen ist.

Er weint.

Er weint. Mit trockenen Augen. Um die Frau, die er geliebt hat. Die gegangen ist, ohne ein Wort. Kein Geschrei, das ihm alles erklären würde. Nur der Wind in den alten Tannen um das Haus. Ein Eichhörnchen. Ansonsten Stille. Sie hat ihre Sachen mitgenommen, also wird sie nicht ins Wasser gegangen sein. Aber weiß er es. Nein, er weiß es nicht. Er wartet, jeden Tag. Lauscht dem Wind, in den Tannen. Läuft durch den Forst zum Teich. Denkt jeden Tag, der ist zu klein. Und kann doch nicht anders, als die Wasseroberfläche, die Ufer absuchen, jeden Tag aufs Neue. Sie wollte leben, sie wollte sterben, beides gleichzeitig. Vielleicht ist es das, was sie in ihm gesehen hat, gespürt. Er hat nie verstanden, wieso sie so lange bei ihm geblieben ist. Er könnte ihr Vater sein, fast ihr Großvater. Sie hat sich gesehen gefühlt, verstanden, ohne viele Worte. Vielleicht war es dieses Sterben im Leben. Diese Sehnsüchte, in beide Richtungen. Ein Hunger, nach Leben. Ein Sattsein, so gründlich, dass man nicht mal mehr reden musste. Von den Tannen rieseln die Nadeln. Unten sind sie längst kahl. Viel zu dicht gepflanzt, ein typischer Forstwald, wie man ihn früher gepflanzt hatte. Da war sie noch gar nicht auf der Welt gewesen. So jung. Und so alt zugleich. Er hatte sich sofort in sie verliebt. So sehr wie nie zuvor in seinem Leben. So tief und so schmerzhaft, als hätte sie sich eingewurzelt, innen in ihm. Und immer wieder gezogen daran. Bis sie sich rausgerissen hatte. Nach sieben Jahren. Ohne Geschrei. Lautlos. Und gegangen war. Nur mit dem Wind in den Tannen, der geblieben ist, für ihn.

Acht Minuten.

Acht Minuten in dieser Stille. Sie hat sich eingeschlossen, im Keller, im Bunker. Die Luftschutztür war schwer zu verschließen gewesen. Aber nur dort war es endlich komplett still. Dicke Betonmauern, unter der Erde. Sie hätte nicht gedacht, dass sie das aushalten könnte. Sie hat ihren Bruder, auf der anderen Seite, mit dem Wecker. Nach genau acht Minuten wird er diese Tür wieder öffnen, er hat es versprochen, sie vertraut ihm. Und eingeschlossen in diesem unterirdischen Bunker fühlt sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben so richtig frei. Kein Geräusch, was schmerzt, im Kopf. Auch keine Vögel, die mit ihrem Gezwitscher grelle Punkte vor ihre Augen malen. Keine Autos über Kopfsteinpflaster. Keine Kinderstimmen vom Spielplatz. / Er kann sich gar nicht vorstellen, wie das ist, unter allen Geräuschen zu leiden. Er liebt die Vogelstimmen, die Kinderschreie, sogar die Autos über Kopfsteinpflaster. Das Leben, mitten in der Stadt. Und nun hält er den Wecker in der Hand, acht Minuten, und schenkt seiner Schwester Stille.

Ich sitze in einem Sessel.

Ich sitze in einem Sessel. Ein dicker alter brauner Ohrensessel. Der Stoff ist speckig, mit Krümeln übersät und bedeckt von Katzenhaaren. In so etwas dreckiges wie diesen Ohrensessel würde ich mich nie hineinsetzen. Und nun hat er mich eingeladen. Weil ich ihm geholfen habe, mit seinen drei Tüten. Die Tüten waren zu schwer für ihn. Manchmal zieht Helfen Dinge nach sich, die ich nicht vorhergesehen habe. Nun sitze ich bei diesem alten Herrn im Wohnzimmer. Er hatte keinen Alkohol in seinen Beuteln, er schleppte Katzenfutter nach Hause und Katzenstreu. Vier sind es und streunen um meine Beine. Ich bin allergisch und niese, immer wieder, und kann doch nicht aufstehen und gehen. Er sitzt mir gegenüber, auf einem grünen Sofa mit Löwenfüßen, der Bezug genau so speckig wie in meinem Ohrensessel. Er sitzt da, streichelt seine Katzen und hört zu. Er hat nichts gefragt, ich sage nichts, und doch fühlt es sich so an, als würde er mir zuhören. Ohne ein einziges Wort. Meine Angst, die mich immer begleitet, bröckelt ab wie Kuchenkrümel. Eine weitere Schicht für den Sessel. Ich weiß nicht, wie lange ich bei ihm sitzen geblieben bin.

Es ist nicht alles schlimm.

Furchtbare Schmerzen. Der gesamte Unterleib. Die Oberschenkelinnenseiten. Nerven links. Das Becken wie überdehnt. Alles geschwollen.

Sie schreibt an ihr Tagebuch. Sonst gibt es keinen, der wissen will, wie es sich anfühlt. Wenn man sich zum ersten Mal erinnert, was die eigene Mutter gemacht. Mit Fingerspitzen. Und Fäusten.

Sie schreibt, dass sie wieder trinkt. Und nicht mehr schlafen kann. Dass sie Schmerzen hat und kaum noch laufen kann, geschweige denn sitzen. Als wäre es gestern gewesen.

Und ist sechzig Jahre her. Sie glaubt es selber kaum. Wer sollte sonst ihr glauben. Die Leute haben ja keine Ahnung.

Sie hat es aufgeschrieben. Damit sie nach einer Woche zwei nicht wieder tun kann, als wäre alles so ganz ohne.

Easy peasy.

Ist es nämlich nicht.

Sie geht jetzt ins Theater. Eine Freundin spielt. Ja, sie hat auch Freundinnen. Zwei. Und sie gehen ihr nicht mehr verloren.

Das Theater wird ihr helfen. Ablenkung. Und die Musik. Bis sie selber wieder Lust hat, zu singen.

Sie singt gern.

Auf dem Weg zum Theater blühen Robinien. Die weißen Blütentrauben. Der Duft.

Sie kann sehen. Sie kann riechen.
Es ist nicht alles schlimm.
Lange nicht alles.