Seit ich mich erinnern kann, habe ich immer mal wieder den Impuls, den ein oder anderen obdachlosen, wohnungslosen Menschen mit nach Hause zu nehmen. Gerade wieder vermehrt, in dieser Zeit, in der sie so viel mehr noch ausgesetzt und alleine sind. Ausgeliefert ihren Traurigkeiten, ohne ein tröstendes Wort.
Wie selten legen wir Wohnungshabenden den Wohnungslosen eine Hand an die Schulter, an den Arm. Geschweige denn, dass wir ihn oder sie umarmen würden. Sie könnten dreckig sein und stinken. Sie könnten bei uns in der Wohnung plötzlich Dinge tun, die für die Kinder gar nicht gehen, oder gefährlich sind, wer weiß. Wie viele Ängste ich habe, ohne es zu wollen. Zugleich wirken sie überhaupt nicht gefährlich, die wenigen Obdachlosen, die ich ein wenig besser kenne. Nicht wirklich kenne, aber häufiger sehe, öfter bei ihnen stehen bleibe. Mit denen ich immer ein Lächeln tausche, manchmal ein paar Worte. Denen ich Geld gebe, wenn ich welches mithabe. Aber berühren, nein, berühren tue ich sie nicht.
Nur einmal, ein einziges Mal, da habe ich einen berührt, der betrunken war und stank, der immer da saß und mich anlächelte. Ich war mit meiner kleinen Tochter unterwegs. Sie stellte sich vor ihn hin und sagte hallo, legte ihm ihre kleine Hand aufs Knie und fragte, wie es ihm gehe. Schließlich kannten wir ihn. Sie mochte sein Lächeln, genau wie ich. Und dieses Kind stand vor diesem Mann, setzte sich neben ihn, redete mit ihm, legte ihm die Hand auf sein Knie. Dem Mann kamen die Tränen. Wasser floß, strömte diese Wangen hinunter. Das Kind wischte das Wasser weg, mit kleinen zarten Fingern, immer wieder. Ich stellte mich daneben und legte dem Mann eine Hand an die Schulter. Es fühlte sich an wie Großvater, Tochter, Enkelin. Er war nicht fremd. Er stank nicht mehr, wir rochen es nicht. Er wirkte nicht mehr betrunken.
Zurzeit fehlt er, wie so viele. Wir haben ihn immer wieder gesehen, über Jahre. Seit Corona ist er weg. Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist. Ob er ein Land hat, wo er hingehen kann, einen Ort, einen Menschen, einen Platz in dieser Stadt.
Ich hoffe, er hat ein Kind gefunden, das ihn ganz ohne Zögern an die Hand genommen und durch ein kleines Türchen in einen Garten geführt hat. In dem Garten blühen jetzt die Fliederbüsche, in allen violett-Tönen. Mit betörendem Duft und diesem ständigen Summen der Bienen. Ein kleines Haus mit einem Bett. Kein Bier, aber das Kind stellt ihm jeden Tag ein wenig Essen hin. Wasser gibt es im Brunnen genug. Er beginnt, sich zu waschen. Und dem Kind die Hand zu geben, wenn es kommt. Gestern haben sie zum ersten Mal miteinander geredet. Sie sprechen nicht dieselbe Sprache. Sie haben sich gut verstanden.
Wenn er wieder auftaucht, aus seinem Garten, wo immer er jetzt ist, werde ich meine Hand an seinen Arm legen. Und ihn fragen, ob er mitkommen möchte.