Der Zug.

An diesem Abend ging sie spät noch zum Zug. Sie wollte das Ticket schon mal kaufen, damit sie am nächsten Tag nicht in Stress kommen würde, mit der kleinen Tochter und dem Gepäck. Ein Ticket zu Freunden aufs Land. Stattdessen löste sie eine Bahnkarte nach Paris. Und von Paris weiter nach Toulouse. Von Toulouse weiter nach Portecluse, ein Hof und eine Schule mitten im Nichts, sie hatte kaum Erinnerungen daran. Aber an diesem Abend war der Hof plötzlich wieder da. Das große Tor, die alten Bäume, der Brunnen. Der hinkende Hund, den es natürlich schon lange nicht mehr geben würde, aber anders konnte sie sich den Hof gar nicht vorstellen. Die kleine Schule, die ihr so wunderbar vorgekommen war, weil sie plötzlich sein durfte wie sie war, ohne sich mehr ständig zu erklären. Der Martin hatte sie unter seine Fittiche genommen, Flügel rechts und links, ein großer Engel, ohne Sex. Der Martin hatte sie von der Straße geholt und nach Portecluse gebracht. Inkognito. Sie war tatsächlich ab dem Moment in Sicherheit gewesen, in dem sich das Hoftor hinter ihr geschlossen hatte, obwohl es sich in ihr noch jahrelang, jahrzehntelang nach Gefahr angefühlt hatte. Eigentlich hatte sich das nie so ganz aufgelöst, auch nicht nachdem sie schon lange in Berlin lebte, weit weg von allem. Und an diesem Abend, nach der langen online-Konferenz, wollte sie zum Bahnhof spazieren, frische Luft schnappen und ein Ticket lösen, um am nächsten Tag für die Reise mit ihrem Kind weniger Stress zu haben. Auf dem Weg zum Zug war sie in diesen großen dunklen Mantel hineingelaufen. Der Mann kam ganz nah an der Mauer um die Ecke, auf dem schmalen Übergang, der zu den Gleisen führte. Ganz plötzlich waren diese schwarzen Mantelflügel rings um ihren Körper, dieser übergroße Mann mit den stolpernden Beinen zwischen ihren, schon halb über ihr, und der Gestank, nach Schweiß, nach Rauch, nach Alkohol. Sie kotzte dem Mann vor die Füße, statt sich zu bedanken, dass er ihr aufgeholfen hatte. Sie entschuldigte sich nicht, schließlich war sie rechts gegangen, ganz so, wie es üblich war, in Berlin. Und das Kotzen, dafür konnte sie sich erst recht nicht entschuldigen. Es kam so unvermittelt, dass sie selber nur staunend hinterherschauen konnte. Sie hatte weder gegessen noch war ihr schlecht gewesen, als sie vom Computer aufgestanden und zum Bahnhof gelaufen war. Statt zum Automaten zu gehen und ein Ticket für die äußerste Ecke Brandenburgs zu lösen, folgte sie dem Geschmack im Mund zum Reisezentrum der deutschen Bahn und kaufte sich eine Karte nach Paris. In Paris stieg sie am frühen Morgen um, nach Toulouse. In Toulouse sah sie sich nicht um, ging in keine einzige Straße, hob jede Menge Euros ab am Geldautomaten neben dem Gleis, stellte sich vor den Bahnhof und leistete sich eine Taxifahrt aufs Land. Unbezahlbar. Unglaublich teuer. Heutzutage konnte sie sich das leisten. Auch wenn sie nicht an ihr Kind denken durfte. Mit ihr hätte sie doch heute aufs Land fahren wollen. Sie hatte nicht mal ihr Handy mit. Wie lange sie bleiben wollte, wusste sie noch nicht. Sie musste erst mal den Hof finden, die Schule. Vielleicht den Martin, falls er nicht längst gestorben war. Und dann würde sie weiter sehen. Vielleicht konnte ja alles wieder gut werden. Sie hatte doch jetzt ihren Mann und ihr Kind. Sie war doch schon so lange weit weg.