Die Sicht verschwimmt.

Die Sicht verschwimmt. Das ist immer das erste Anzeichen. Danach erkennt er die Menschen nicht mehr, erinnert sich nicht mehr an ihre Namen, kann keine geraden Sätze mehr bilden. Am besten verschwindet er dann ins Bett, unter die Decke, dort fragt ihn auch keiner mehr nach einem Wort, das er nicht mehr finden kann, in seinem seltsamen Kopf. Als Kind hatte er sich das als seltsames Gewächs im Gehirn vorgestellt, das größer und größer wird, an manchen Tagen auf die Augen drückt, an andern auf die Wörter, oft auf alles gleichzeitig. Und das ihm einredet, nichts wert zu sein und sich umzubringen am besten. Theorien, wer ihm nächtlich das Gewächs ins Gehirn gepflanzt hatte, waren damals viele in seinem Kopf unterwegs, wilde Geschichten, an die er sich heute nicht mehr erinnern kann. Es waren meistens Ärzte, das wusste er noch, Ärzte aus der Nachbarschaft, da gab es so einige. Wie und wo und wann genau sie das aber gemacht hatten, dieses Gewächs in seinen Kopf zu pflanzen, das wusste er nicht mehr. Auch an die Namen der verschiedenen Ärzte konnte er sich nicht mehr erinnern. Sein Großvater war auch so einer. Dessen Namen kannte er noch. Aber die waren so oder so alle schon tot, die konnte er nicht mehr fragen. Und heute glaubte er auch nicht mehr so recht an die Geschichte mit dem Gewächs im Gehirn, an die Geschichte mit seinem seltsamen Kopf. Irgendwie hatte er diese Geschichte immer gemocht, sie hatte ihn auch ein wenig zu etwas Speziellem gemacht, nicht nur seltsam, sondern auch speziell. In gewisser Weise ein Wunder für die Wunderkammer. In Formalin einlegen und in Glas einschließen. Das wäre auch eine Variante gewesen. Stattdessen hatte er sich entschieden, weiter zu leben, der Stimme zum Trotz. So lebt er heute noch. Heute sprechen die Leute eher von Dissoziation und traumabasierter Amnesie. Viel logischer und schlüssiger als seine damaligen Kindergeschichten ist das alles für ihn keinesfalls. Nur weniger abenteuerlich, weniger wild. Eigentlich schade.