Sie las, um sich nicht mehr zu fühlen. Sie las, um nicht mehr zu denken. Sie las, um nicht mehr zu trauern. Sie las neben spielenden Kindern, weil sie die spielenden Kinder nicht mehr ertragen konnte. Sie las abends, um nicht mehr einschlafen zu müssen. Sie las nachts, um nicht zu träumen. Sie las tagsüber, um nicht zu arbeiten. Sie las, um nicht aufräumen zu müssen, nicht zu putzen, nicht zu kochen. Sie las, um nicht mehr essen zu müssen. Sie brachte die Kinder ins Bett, mit einem Buch in der Hand. Sie hielt Kinderhände und sang Kinderlieder, mit den Augen an den Zeilen. Sie trank Kaffee, mit ihrem Mann, und las. Sie sprach mit ihrem Mann, ohne das Lesen zu unterbrechen. Sie organisierte den Tag der Kinder, die Spielverabredungen, die Termine ihres Mannes, ohne aufzuhören, innerlich die zuletzt gelesenen Sätze zu wiederholen und die nächst zu lesenden sich bereits vorzustellen. So las sie doppelt und dreifach so schnell wie andere, die Zukunft bereits im Blick, das Ende schon quergelesen. Bücher waren nie zu Ende, sie konnte sie später wieder aus dem Regal ziehen und ein zweites Mal lesen, ein drittes. Und manchmal wusste sie erst auf den letzten Seiten, ob sie das Buch nicht doch vielleicht schon mal gelesen hatte. Ganz sicher war sie sich nie. Kaum ein Satz blieb in ihr hängen. Und doch las sie weiter. Sie legte die Bücher nicht mehr aus der Hand. Nicht mal in den seltenen Momenten des Schlafs, der sie überraschte, mitten im Satz, für halbe Stunden. Was würde sie tun, ohne ein Buch. Sie wusste es nicht.