Löschen.

Sein Bruder hatte ihn angerufen, ihm auf Band gesprochen. Er war gar nicht erst rangegangen, er wusste, dass ihm das nicht gut tat. Aber der Anrufbeantworter stand in der Küche, das Blinken am Apparat blieb. Wie sollte er das Blinken ausschalten, ohne die Nachricht zu hören? Konnte man die Nachrichten direkt löschen?

Das hat er dann gemacht, das war tatsächlich möglich. Die Nachricht startete nicht, er musste die verhasste Stimme nicht hören. Verhasst, weil sie immer so freundlich klang, sich so durch und durch freundlich anfühlte, als wäre nicht nur nie etwas vorgefallen, sondern als wäre im Gehirn seines Bruders auch tatsächlich nicht die kleinste Spur eines Vorfalls übrig geblieben. Keine Erinnerung, keine Ahnung, keine Vermutung, nicht mal die leiseste Möglichkeit eines Vorfalls. Geschweige denn wiederholter Vorfälle.

Eine grundfreundliche Stimme, liebevoll im Ton, als würde es ihn tatsächlich interessieren, wie es ihm ging. Ihm, dem schwarzen Schaf in der Familie, dem psychisch kaputten, dem wirtschaftlich zumindest instabilen. Es machte ihn gleich nochmals wütend, dass ihm ein großes Vorerbe ermöglicht würde, sobald er endlich bereit wäre, sein Leben den Vorstellungen der Familie anzupassen. Sein Bruder hatte die Methode der Alten verteidigt, sieh doch, das macht doch Sinn, bei deinem Lebenswandel, sonst ist das Geld doch gleich weg. Seither hasste er die freundlichen Nachfragen auf dem Anrufbeantworter noch mehr.

Er ging schon länger nicht mehr ran, wenn sein Bruder ihn anrief. Diesmal hatte er die Nachricht zum ersten Mal nicht mehr abgehört. Er spürte die Erleichterung, körperlich. Dass nicht erst die Stimme angehen musste, bevor er das Symbol mit dem Mülleimer auswählen konnte. Aus seiner Sicht war diese alles-ist-gut-und-alles-war-immer-gut-gewesen-Stimme schlicht Müll. Seine Wahrheit sah anders aus, auch wenn er wusste, dass es Wahrheit im Gehirn nicht gab. Dass sein Leben seither, die Jahrzehnte, seit er ausgezogen, dass all die Jahre rückwirkend die Erinnerung verändert verfärbt geschärft verfälscht und neu gemalt hatten. Bis nichts mehr stimmte, nichts mehr war wie es war. Dennoch vertraute er seinem eigenen Erinnerungsgefühl um vieles mehr als dieser schein-freundlichen glückliche-Kindheit-Bruderherz-Stimme.

Jetzt konnte er löschen. Und er war sich im genau selben Moment bewusst, dass er dann auch die Todesnachricht verpassen würde, wenn es so weit war. Dass er dann auch nicht hören würde, wie sein Bruder mit freundlich-tieftrauriger Stimme ihm mitteilen würde, dass Vater oder Mutter jetzt tot waren. Wenn es wichtig war, würde irgendjemand ihm schreiben, das reichte ihm. Und wenn er enterbt sein sollte, bis dahin, dann sollte ihm das auch recht sein. Sie sollten sich auch posthum nicht mehr einmischen in sein Leben. Er war psychisch und wirtschaftlich nicht stabil. Aber lieber instabil, als alles hinter einer freundlich-liebevollen Wand des Vergessens.

Er war sich sicher, dass er, wenigstens er, im Tod im Sterben dann nicht mehr ganz so viele unbekannte seltsame verschreckende Szenen würde sehen müssen. Weil er viele Dinge schon kannte, die der letzte Film ihm würde vorspielen können. Er freute sich eher darauf, es sich dann nochmal im Zusammenhang und in der Chronologie anzusehen. Hoffentlich wird sein Tod ihm Zeit lassen für das Abspulen des gesamten Films.