Neue Knospen.

Ein Bilderbuch auf den Knien, Papier darüber. Sonne im Gesicht. Schreiben auf dem Balkon. Der Wind treibt die beiden Windrädchen an. Das eine dreht leise samten. Das andere ist schon alt, vom letzten Jahr, und quietscht und rattert, übertönt die Vögel.

Die Vögel haben lange alle Knospen der Nelken abgebissen. Als Futter? Für die Jungen? Zum Nestbau? Jedenfalls haben sie jetzt aufgegeben. Die Nelke hat neue Knospen getrieben. Heute ist die erste aufgeblüht. In der Früh wahrscheinlich, sie ist schon ganz offen und leuchtet in der Sonne.

Neue Knospen treiben. Überall dort, wo uns welche abgebissen werden. Oder direkt daneben. Wenn ich Musikerin werden wollte, als Jugendliche, als junge Studentin. Und mir alles abgebissen wurde, jede einzelne Knospe. Dann kann ich schreiben. Oder ganz neue Instrumente lernen. Als Erwachsene ein Cello übernehmen, ein gebrauchtes, mit einem wunderbar warmen Ton. Oder plötzlich singen, mehr als Kinderlieder. Mich auf die Straße stellen, wie die junge Frau in der Unterführung, die mich zu Tränen berührt hat, mit ihrem Gesang, mit ihren Texten. Die mir Mut gemacht hat, mich doch mit hinzustellen. Dann haben wir zu zweit gesungen.

Die Leute sind stehen geblieben. Ich habe es nicht gemerkt. Wasser im Gesicht. Klang im Körper. Die Stimme dieser Frau, so jung, so tief, so viel erlebt, so erfahren. Als wäre sie eine weise Alte, die mich an die Hand nimmt, zu meinen ganz eigenen Tönen. Die Menschen wischen sich Tränen aus den Augen, legen Geld in den Hut. Für die junge Frau, für mich, für sich, für die Tränen.

Neue Knospen, wie die Nelken. Lass dir ruhig alles abbeißen, wenn die Vögel hungrig sind. Es wird etwas nachwachsen, irgendwann. Ein wenig reicher, ein wenig kräftiger in der Farbe. Ein bisschen tiefer im Klang.

Es ist schön, auf dem Balkon zu schreiben. In der Sonne. Zwischen Windrädern und Vögeln und Nelken.