Seine alte Mutter. Sie ist gar nicht sehr alt, aber sie fühlt sich alt, oder durch ihr Alter gefährdet. Euch Jungen wird es ja nichts ausmachen, aber wir Alten, wir nippeln dann ab oder was. Nein nein, das will sie um keinen Preis. Sie hat sich früh verrenten lassen, ist mit ihren 63 Jahren glücklich im Ruhestand, und den will sie sich jetzt nicht gefährden lassen. Durch nichts und niemanden. Nicht mal seine Neffen und Nichten will sie sehen, ihre Enkelkinder. Das kann er nun ja gar nicht mehr verstehen. Die Familie seines Bruders hat sie ein paar Monate lang noch immer mal unten auf der Wiese vor dem Haus besucht, mit Masken und Abstand und draußen, kein Kuscheln für die Kinder, Fußballspielen und Frisbee, aber immerhin die Oma sehen, ihr Lachen hören. Aber seit Juli bereits weigert sie sich, noch auf die Wiese vor das Haus zu kommen. Sie hat die Einschulung ihres ältesten Enkels verpasst, obwohl die draußen stattfand, mit viel Abstand zwischen den einzelnen Familien und Maskenpflicht für die Erwachsenen, mitten im Sommer. Nein, zur Einschulung kann ich leider nicht kommen, wo denkt ihr hin, ihr wollt mich wohl noch ins Grab bringen. Er konnte das schon lange nicht mehr hören. Einkaufen ging sie ja auch, mit Maske. Wieso sollte sie ihre Familie nicht mehr treffen, mit Maske. Er wollte sie nicht mehr verstehen, er gab sich nicht mal mehr Mühe. Sollte sie sich einigeln. Er hatte sie jetzt auch bereits seit acht Monaten nicht mehr gesehen, obwohl er um die Ecke wohnte. Und wenn sie jetzt sterben sollte, an was ganz gewöhnlichem oder trotz aller Vorsicht an Corona, und sie hatte seit Monaten keinen von der Familie mehr gesehen. Für wen, bitte schön, sollte das denn gut sein. Nein. Er wollte sie nicht verstehen. Er weigerte sich, noch mit ihr zu telefonieren. Wenn er nicht auf den allerersten Impfzug aufsprang, oder sich doch mal mit einem Freund im Park zum Bier traf, war er ja schon Corona-Leugner und schuld an der ganzen Misere, wegen solchen wie ihm war der ganze Spuk nicht schon lange vorbei. Das gab er sich nicht mehr. Nein danke. Aber ja, das hätte er trotz allem nicht gedacht, dass es nach fast vierzig Jahren Mutter-Sohn in leidlich gutem Verhältnis noch zu solch einem Zerwürfnis, einem regelrechten Bruch kommen konnte. Er war sich nicht sicher, wenn diese ganze Sache irgendwann vielleicht dann doch ausgestanden sein sollte, ob diese Kluft zwischen ihnen sich je wieder würde schließen lassen. Im Moment hätte er nicht mal mehr sagen können, ob er es überhaupt noch wollte.