Sie weiß nicht, welcher Tag heute ist.

Sie weiß nicht, welcher Tag heute ist. Sie findet das Buch nicht mehr, in dem sie gestern gelesen hat. Oder war das vorgestern gewesen? Aber was war denn dann gestern gewesen?

Nachmittags, mit den Kindern, da war sie auf den Spielplatz gegangen. Eine Freundin hat sie dort besucht, weil Spielplatz der einzige Ort ist, an dem man mit Kindern auch mal ein Erwachsenengespräch führen kann. Durchbrochen von Notfällen, Hunger Pipi Durst Pflaster. Aber dennoch, fast ein Gespräch. Daran kann sie sich erinnern, an den Nachmittag mit der Freundin.

Aber der Vormittag, die paar Stunden ohne Kinder? Sie wollte sollte die Steuer machen, vom Vorjahr. Um nicht wieder so spät zu sein, ausnahmsweise. Die Steuer hat sie jedenfalls nicht gemacht, das hat sie schon gesehen. Der Stapel liegt unberührt, den hat sie nicht angefasst. Was hat sie dann getan? Immerhin vier Stunden. Und wenn jetzt auch noch das Buch weg ist, in dem sie doch gelesen hat, zuhause, auf dem Sessel.

War das vorgestern gewesen? Sie sieht sich sitzen, in dem großen weichen Sessel, mit dem Buch in der Hand. Endlich mal wieder ein Buch, hatte sie noch gedacht. Aber das Buch ist nirgends. Nicht in der Wohnung, nicht in den Taschen. War sie gestern draußen gewesen? Hatte sie es mit nach draußen genommen? Aber wohin?

Ihr Lieblingscafé hat noch geschlossen. Sie weiß nicht, ob es je wieder öffnen wird, nach dieser seltsamen Zeit. Die Leute dort sind schon vorher nicht reich geworden. Viele der Gäste waren Menschen wie sie, die einen einzigen Kaffee tranken und lange lange sitzen blieben. Mit einem Buch oder einem Freund, mit dem Laptop oder mit Stift und Papier.

Sie hat immer von Hand geschrieben, im Café. Sie vermisst diesen Platz, einen ihrer Lieblingsplätze. Sie hat sich dort sicher gefühlt, auch unter Menschen. Nun sitzt sie immer zuhause. Denkt sie jedenfalls. Aber wenn das Buch weg ist?

Sie hat Angst. Große Angst. Mit Worten nicht beschreibbare Angst. Was ist, wenn sie wieder Dinge tut, ohne es zu merken? Wenn sie das Haus verlässt und wieder nach Hause kommt und denkt, sie hat im Sessel gesessen den ganzen Vormittag mit einem Buch?

Und wo, wo genau war sie denn unterwegs gewesen? Jetzt, wo man eigentlich nirgendwo hin gehen konnte. Und mit wem? Wenn das wieder eine Frage wurde, ohne dass sie es gemerkt hatte. Hektisch beginnt sie, nach Spuren zu suchen, in der Wohnung, im Hof, im Fahrradkeller.

Schließlich fragt sie ihre Freundin, ältere Dame, Künstlerin im Erdgeschoß. Deren Fenster gehen zum Hof. Und außer mit dem Hund zu gehen, hat sie nichts zu tun, in dieser Zeit. Keine Aufträge, keine Kurse, keine Filme, kein Geld. Sie sitzt und schaut in den Hof.

Der Blick ihrer Freundin ist klar und wach und freundlich. Ja, du bist gestern Vormittag dreimal mit dem Rad weggefahren und kurz danach wiedergekommen. Vorgestern auch schon, und den Tag davor. Ich habe mich schon gewundert.

Sie wundert sich über nichts mehr. Aber sie fürchtet sich. Und hat keine Ahnung, wohin sie weggefahren ist. Wen sie getroffen hat. Und wozu. Nur dass sie jemanden getroffen hat, oder mehrere, von DENEN, darüber ist sie sich ziemlich sicher.

Ach, komm doch zu mir ins Atelier. Na komm schon. Wir trinken einen Tee und du erzählst. Wir werden schon eine Lösung finden. Und dann wissen wir auf jeden Fall schon mal, wo du bist. Das ist doch schon ganz schön viel, oder?

Sie glaubt an keine Lösung. Aber Tee trinken. Und nicht allein sein. Das ist ganz schön viel. Sie lächelt ihre Freundin an. Und tritt ins Atelier. Atmet den Geruch nach Farben und Holz und Leim. Vor dem Fenster blühen die Rosen.