Sonnenaufgang

Sie hatte in ihrer Wohnung, in der sie seit fünf Jahren wohnte, noch nie den Sonnenaufgang gesehen. Jedenfalls nicht im Sommer. Nicht bewusst. Sie war noch nie so früh auf den Balkon gegangen wie an jenem Tag. Sie war aufgewacht, mitten in der Nacht, wie meistens, aber dann hatte sie nicht wieder einschlafen können. Und hatte sich auch nicht an ihren Schreibtisch gesetzt, wie in vielen anderen Nächten. Sie hatte sich eine Kanne Tee gekocht und sich auf den Balkon gesetzt. Ohne Laptop, ohne ein Buch, es war noch dunkel gewesen. Eine Tasse nach der anderen hatte sie ihre Kanne ausgetrunken, schluckweise, ohne zu denken. Müde und doch nicht müde. Überwach und doch nicht wach. Nicht fit. Nicht gesund. Sie hätte es sich anders gewünscht. Aber sie saß auf diesem Balkon mit nichts in den Händen und nichts im Kopf. Leere. Und Stimmen. Alte und neue Stimmen, wild durcheinander. Denen sie nicht mal zuhören musste. Es blieb leer in ihr. Weswegen sie begann, den Himmel wahrzunehmen. Durch die Stimmen hindurch. Die heller werdenden Wolken. Die ersten gelben Wolkenränder. Die erste Helligkeit, die in ihren seit Jahren übernächtigten Augen blendete. Die Vogelstimmen, der Duft der Linde, den sie nicht riechen konnte, weil sie seit vielen Jahren nichts mehr roch, den sie dennoch wahrnahm, durch die Haut hindurch, weil die Augen die tausenden von Lindenblüten im riesigen Lindenbaum sahen. Uralt. Nicht sie, der Baum. Sie auch. Uralt. Mit Stimmen von allen in ihr. Im Kopf, im Körper, im Gesäß. Wie sie auf Gesäß kam? Sie hätte es nicht erklären können. Sie wollte sich auch gar nicht erklären. Keinem mehr. Sie war dankbar um die Schlafmedikation, die der Hausarzt ihr immer mal wieder verschrieb. Sie ging sparsam damit um, nur von Zeit zu Zeit mal eine Nacht mit ein paar mehr Stunden an Schlaf, dann konnte sie wieder weitermachen. Die Wolkenränder wurden so hell, dass sie nicht mehr in die Richtung schauen konnte. Und froh war, dass die Sonne hinter der Linde aufging, über dem Dach der Nachbarhäuser, des Nachbarblocks, ein großer grauer Riegel, mitten in der Landschaft. Sie hasste die Blocks. Etwas anderes konnte sie sich nicht mehr leisten. Seit sie berentet war. Mit fünfunddreissig. Die Leute verstanden das nicht. Sie auch nicht. Es gab keine Erklärung. Vielleicht wusste ihr Kopf etwas. Oder ihr Gesäß. Sie selber saß in aller Leere auf dem Balkon. Blieb sitzen, auch lange nach Sonnenaufgang. Die Linde warf angenehm grünen Schatten.