Mit den Jahren sind die Träume weniger geworden.

Sie hatte ihn selber losgeschickt. Er war viel zu müde, um noch etwas für sich selber einzufordern. Die Kinder waren so klein, die Nächte so furchtbar, die Tage so herausfordernd. Da hatte sie ihn losgeschickt, Motorrad fahren. Eine Pause von den Kindern, eine Pause von der Frau, eine Pause von allem. Fahrtwind, leere Straßen, die Weite Brandenburgs. Irgendwo in einer Bäckerei einen Kaffee trinken, ein Teilchen essen. Und wieder fahren, durch die Wälder brausen, über die vereinzelten Hügel, deren gebogene Straßen sich anfühlen wie Passstraßen, in dem platten Land.

Sie hatte ihn selber losgeschickt. Oder war es ein anderer Tag? Er war manchmal auch von sich aus losgefahren. Wenn sie ehrlich war, konnte sie sich einfach nicht mehr erinnern. Es gab so viele Tage, an denen sie mit den Kindern auf dem Balkon gestanden hatte, über die Jahre. Ein kleines auf dem Arm, ein zweites, ein drittes, später standen sie schon selber am Geländer. Sie hatten ihm hinterhergeschaut und gewunken. Welch ein schöner Mann. Welch ein wunderbarer Papa.

Sie konnte sich nicht erinnern, wie es gewesen war, an jenem Tag. Als würde alles davon abhängen, ging sie wieder und wieder die Abschiedszenen durch, die in ihrer Erinnerung gesammelt lagen, die gemeinsamen Frühstückszeiten an freien Tagen, was hatte sie gesagt, was er, was die Kinder. Vielleicht hatte auch die Große ihn losgeschickt? Weil sie bereits wusste, wieviel ruhiger, entspannter, zufriedener er nach Hause kam, nach einer Motorradtour, nach seinen Fahrten durch Brandenburg.

Das Gefühl blieb bestehen, über viele Jahre, dass sie ihn selber losgeschickt hatte. Dass sie NUR etwas anderes hätte sagen müssen, am Frühstückstisch. Sie träumte davon, wie sie ihn zurückhielt, nein, heute nicht, bitte, ich bin zu müde, ich kann nicht, alleine mit den Kindern. Oder wie ein Kumpel anrief, etwas von ihm wollte. Oder wie sie sein Losfahren hinauszögerten, sie und die Kinder, mit so vielen Dingen, die sie ganz dringend noch von ihm brauchten, bevor er endlich losfahren konnte. Sie träumte, wie er eine Stunde später an der Unfallstelle vorbeifuhr, wo die Helfer bereits die Trümmer beiseite geräumt hatten. Träumte, wie er an den See fuhr, einen Kaffee trank, und wieder zu ihnen zurückkam.

Mit den Jahren sind die Träume weniger geworden. Die Kinder haben nicht mehr so oft geweint. Sie hat die Farben wieder gesehen, den Duft der Linden wieder wahrgenommen, als könnte sie ihn auf der Haut spüren.

In dem Frühsommer, als sie zum ersten Mal die Linden wieder blühen gerochen hat, in dem Frühsommer hat sie sich neu verliebt. Sie hätte das nicht für möglich gehalten.