Sie spielt Verstecken. Mit ihrem Sohn. Fröhlich und ausgelassen. Er zählt an, sie rennt ins Kinderzimmer, versteckt sich unter der Decke. Er findet sie nicht. Lange nicht. Sie liegt still. Sie atmet kaum. Das Herz spielt verrückt. Wird schneller und schneller. Die Hitze unter der Decke. Die Atemnot. Sie kriegt keine Luft. Sie kann sich nicht rühren. Der Kleine reisst die Decke weg. Hab dich! Sie atmet wieder. Die Sicht bleibt verschwommen. Über Stunden. Sie kann nicht mehr spielen. Sie war seit vielen Jahren nicht mehr so nah gewesen. An dieser Todesangst. Mitten im Spiel.
Blauer Himmel.
Heute scheint die Sonne. Nach gefühlten Wochen mit kaum einem Fitzelchen Licht. Wie anders die Welt aussieht. Wie viel weiter weg die Sorgen rücken. Um Berufsverbote für ungeimpfte heilende und pflegende Menschen – Menschen, die wir so dringend brauchen. Wenn die Qualität der Arbeit keine Rolle mehr spielt, stattdessen der Impfstatus zählt. Und Menschen, die sich aus Überzeugung für die Impfung entschieden haben, oder weil sie dem Druck nicht stand gehalten haben, die nun die „besseren Menschen“ sind. Obwohl die meisten von ihnen gar nicht bessere Menschen sein wollten, sehr viele es immer noch nicht wollen. Und mit der Sonne sehe ich wieder die Christrosen blühen, in all den kleinen Baum-Umrandungs-Gärten in Berlin. Die Bäume recken ihre Äste in den Himmel und werden im nächsten Jahr wieder Blätter tragen. Mit der Sonne weiß ich es plötzlich wieder. Das Vertrauen ist zurück. Die Blätter und Blüten werden wiederkommen. Ganz unabhängig von den Entscheidungen rund um diese eine Krankheit. Es gibt so viele andere Entscheidungen, die warten. Und Tage, die einfach gelebt werden können. Ohne Entscheidung. Keiner von uns sollte besser oder schlechter sein. Ich wünsche mir, dass wir alle Menschen bleiben, mit Achtung und Wertschätzung für unterschiedliche Wege. Mit gemeinsamen Gesprächen, sonnigen Augenblicken unter blauem Himmel.
Gestorben.
Er ist gerne bei ihr gesessen. Der Alltag wurde still und ruhig neben ihrem Bett. Die wenigen Worte. Die Geräusche vom Luftbefeuchter und vom Sauerstoffgerät. Manchmal ein Vogel von draußen, dann hat sie noch den Kopf bewegt. Für ihn musste sie sich nicht bewegen. Sie lag ganz still, die Augen geschlossen. Aber sobald er da in seinem Sessel saß, als könnte sie ihn spüren, hat sie jeweils für einen kurzen Moment diese tiefen klaren blauen Augen geöffnet. Nur für ihn. Er wusste dann, dass sie noch hier war. Was immer das noch bedeutete, hier, nicht dort, nicht drüben. Und er schaukelte vor und zurück, in ihrem Sessel, sachte, nicht unruhig. Seine Unruhe fiel von ihm ab, sobald er ihre Wohnung betrat. Diese Nähe zum Tod, die machte ihn ruhig. Das gefiel ihm. Als sie noch mehr hatte sprechen können, hatte er auf ihre Frage, ob es nicht belastend wäre für ihn, neben einer Sterbenden zu sitzen, erklärt, er hätte den Tod so oft so nahe gesehen, in seiner schrecklichen Kindheit, dass ihn Sterben nicht mehr schrecken könnte. Aber je mehr Tage er jetzt in Stille neben ihrem Bett saß, desto falscher kam ihm diese Erklärung vor. Er hatte oft Angst gehabt, damals, gleich wäre es vorbei. Er hatte oft gehofft auch, es wäre endlich vorbei. Und dennoch. Er war noch nie so nah am Tod gewesen wie jetzt, in diesem Zimmer. So nah an dieser Öffnung, zwischen den Räumen. Als könnte er selber mit hindurchschlüpfen. Hin und zurück. In dieser Stille. Nun sitzt er ein letztes Mal am Bett. Es ist stiller noch als sonst, kein Luftbefeuchter, kein Sauerstoffgerät. Nur Stille. Und die Öffnung ist zu. Sie hat sich geschlossen, hinter ihr. Er kann nicht mehr mit, vor und zurück, tastend, suchend, fragend. Er sitzt allein. Im Leben. Und beneidet sie ein wenig. Aber nur kurz. Sie kann ja auch nicht mehr zurück. Und er mag sein Leben.
Sie erwähnt ihr Kind.
Sie erwähnt ihr Kind. Sie hat es nie gekriegt. Sie hat es abgetrieben. Aus guten Gründen. Sie hat es vermisst. Jahrzehntelang. Sie hat sich nicht getraut zu trauern. Sie wollte es ja nicht. Oder doch? Oder nicht. Sie konnte sich nicht entscheiden. Sie hat sich entschieden. Trauern lag nicht drin. Jetzt sind es ein paar Wochen noch. Der Arzt ist nicht mehr optimistisch. Er schlägt keine neue Therapie mehr vor. Er schreitet Richtung palliativ. Und sie? Zum ersten Mal in ihrem Leben beginnt sie zu trauern. Um ihr Kind. Das nicht groß geworden ist. Das nicht geboren wurde. Das fehlt. Immer gefehlt hat. Sie weint. Am Küchentisch. Keine großen Tränen. Stille, kleine Tränen. Ein Glück, dass es einmal noch da sein darf. Ausgesprochen. Auf den Tisch gelegt, das kleine Bündel. In Tücher gewickelt. Gewiegt und gehätschelt. Der Tisch ist leer. Ihr Gesicht wird still und ruhig. Als wäre sie bereit, einen weiteren Schritt zu gehen. In die Richtung dorthin, wo ihr Kind, vielleicht, bereits ist.
ich habe sie losgelassen.
ich habe sie losgelassen. wohin? ich weiß es nicht. bin ich traurig? ja. bin ich schuldig? ja. bin ich froh? manchmal. bin ich unschuldig? selten.
Ich bin draußen.
Ich bin draußen. Ich bin tatsächlich draußen. Ich habe es geschafft. Sie schaute sich um, in dieser neuen Welt. Es war nur diese eine Tür zwischen dieser Welt und der vorherigen. Aber sie hatte sie aufgemacht. Schön, dass ihr alle an mich gedacht habt. Schön, dass ihr alle mich gerne dabei haben möchtet. Und ich muss mich leider verabschieden. In zwei drei Monaten dürft ihr mich gerne wieder fragen. Vielleicht werde ich mich freuen. Heute winke ich in die Runde. Nein, ich werde mich auch nicht allen einzeln erklären. Ich werde mich gar nicht erklären. Ich werde auch nicht alle einzeln umarmen, mich nicht küssen lassen von Menschen, die ich selber gerade nicht küssen möchte. Ich winke und gehe. Ich nehme diese Türklinke in die Hand und drücke sie runter, obwohl die Party gerade erst angefangen hat. Ich öffne die Tür und schiebe mich hinaus, als hätte ich hinter mir noch ein zweites Mal Hände und Arme, richtig starke Arme, die mich aus der Tür schieben und mich stützen. Sie schaute sich um, und ja, die Welt sah aus wie neu. Sie war farbig, obwohl bereits die Dämmerung eingesetzt hatte. Sie sah die Blumen auf dem Fenstersims der Kneipe und die Katze unter dem Auto der zweiten Reihe, obwohl in der Großstadt kaum freilaufende Katzen unterwegs waren, jedenfalls nicht hier, mitten drin, vielleicht am Rand. Als wäre sie mehr an den Rand gerückt, mit dieser einen Tür. An den Stadtrand. An den Menschenrand. An den Rand der Welt der Tiere. Und an den Anfang ihrer eigenen Welt. Die farbig sein konnte. Wenn sie nur die Kraft hatte, sich hineinzubegeben. Ein paar Tage. Ein paar Wochen. Ein paar Monate. Sie wusste es noch nicht zu sagen. Aber es war mal wieder an der Zeit, der Außenwelt Adieu zu sagen und sich nach innen zu wenden. Jetzt, wo sie tatsächlich draußen auf der Straße in der Kälte stand, begann sie, sich darauf zu freuen.
Der Blick verschwimmt.
Der Blick verschwimmt, die Spannung nimmt ab. Es ist nicht gut, aber auch nicht schlimm. Er trinkt, er will nicht trinken. Er trinkt, das tut ihm gut. Er weiß, dass es ihm nicht gut tut. Es tut ihm trotzdem gut. Es nimmt die Spannung. Es nimmt den scharfen bösen Schmerz. Und es lässt ihn schlafen. Irgendwann. Wenn er müde genug ist.
Der Blick verschwimmt, er schenkt sich nach. Er sitzt allein am Tisch, er trinkt mit sich allein. Er will nicht mehr trinken. Er nimmt es sich vor, jeden Tag, wenn die Spannung noch nicht so hoch ist. Aber bis zum Abend hin, erst recht, seit es wieder so früh dunkel wird, sind die Schmerzen so stark, dass er lieber trinkt.
Ärzte mag er nicht mehr sehen. Ihre Ratschläge haben noch nie nichts gebracht. Er könnte spucken. Mit ordentlich gesammelter Spucke. Wenn er es sich richtig überlegt, solche Ärzte, die von nichts eine Ahnung haben und dennoch so tun, als wüssten sie alles über ihn und von ihm und in ihm und überhaupt, die kann man gar nicht unangespuckt lassen.
Er kann wütend werden. So richtig wütend. Und das ist gefährlich. Also bleibt er an seinem Küchentisch. Am Küchentisch ist er in Sicherheit. Er gießt sich nochmals nach. Ein letztes Mal. Langsam gibt es Menschen, in seinem Leben. Auch einzelne hilfreiche Menschen, so scheint es ihm. Vielleicht ist ihm ja doch noch zu helfen.
Wünschen tut er sich die Hilfe nicht. Das ist lange her, seit er zum letzten Mal diese Sehnsucht gespürt hat, dass ihm doch jemand helfen möge. Als Teenager vielleicht. Und früher, als Kind. Aber da hatte keiner geholfen. Es sah doch alles super aus. Wer sollte da auch einschreiten. So war das leider. Er hat das seither schon oft gesehen.
Aber jetzt ist einer da, dem er wirklich am Herzen zu liegen scheint. Was immer das bedeuten mag. Es ist so neu, dass er manchmal gerade deswegen extra viel trinken muss, abends, nachts, allein am Küchentisch. Und dennoch fühlt es sich nach Hoffnung an. Und Hoffnung, das hat er lange nicht mehr gespürt.
Er verschließt die Flasche, Whiskey, vom feineren. Vom feinen Wasser gibt es weniger Kater. Er geht auf den Balkon, sagt den Sternen gute Nacht. Das macht er jeden Abend, seit es den andern gibt. Die Sterne winken zurück.
Und dann ist er wieder aufgestanden.
Und dann ist er wieder aufgestanden. Draußen schien die Sonne. Er hat sich gezwungen, seine Schuhe anzuziehen, die Jacke, und nach draußen zu gehen, in den nahe gelegenen Park. Um diese Uhrzeit war der Park meistens fast leer, da konnte er sich gut bewegen, mit wenig Angst, und das war schon viel. Und im Park lagen die Blätter, die farbigen. Die roten gelben violettgrünen braunen. Er wirbelte sie durcheinander, mit seinen Füßen. Er hatte ein Lachen im Gesicht, kurz, wie ein kleiner Junge. Mit den Händen fischte er ein Blatt aus der Luft, steckte es sich in den Mund. Ein Geschmack nach Grün, nach Erde, nach Dung. Er lachte laut auf, versteckte verschämt sein Gesicht in den Armen, sah sich nach allen Seiten um, aber da war keiner, keiner hatte ihn gesehen, keiner ihn gehört. Da schob er einen Laubhaufen zusammen, mit Händen und Füßen, und setzte sich mitten hinein. Wie früher. Ganz früher. Wie lange war das her? Irgendwie fühlte er sich ernährt, als hätte er einen warmen Porridge gekocht gekriegt, von Großmutter, mit ein bisschen Zucker und Zimt, mit einem Stück geschmolzener Schokolade eingerührt. Er legte sich hin, mitten in die Blätter, und starrte in die Bäume hinauf. In den blauen Himmel, die ziehenden Wolken, die Sonne in den Ästen. Da wurde es plötzlich laut. Eine Horde Gänse. Ein Schwarm. In Formation flogen sie über seinen winzigen Park, mitten in der Stadt. Er lachte glücklich. Und sah den Gänsen lange hinterher.
Der Zug war abgefahren.
Nochmal studieren? Er scrollte durch die Seiten, las hier einen Absatz, dort einen, klickte weiter zum nächsten Studiengang. Aber in seiner Lage, mit seinen Einschränkungen, war vieles nicht mehr möglich. Im sozialen Bereich, der ihn interessierte, gab es keine reinen online-Studiengänge. Überall waren gewisse Module in Präsenz, praktische Inhalte und Angebote in Gruppen. Und das konnte er nicht. Vielleicht in ein paar Jahren, aber wer konnte das wissen? Jetzt, im Moment, wagte er nicht zu glauben, dass er je wieder unter mehr als zwei drei Menschen sich würde aufhalten können. Geschweige denn, mit dem Zug irgendwo hinzufahren, durch ein Bahnhofsgebäude ins Freie zu kommen, in einem fremden Hotel zu übernachten und in größeren Studierendengruppen seine Scheine zu machen. Er gab es auf. Der Zug war abgefahren. Entmutigt klappte er den Laptop wieder zu. Wieviel Schwung hatte ihm der Gedanke gegeben, vielleicht doch nochmal zu studieren. Jetzt war der Schwung schon wieder weg. Er verkroch sich ins Bett, unter die Decke. Am liebsten hätte er geheult.
Der Zug.
An diesem Abend ging sie spät noch zum Zug. Sie wollte das Ticket schon mal kaufen, damit sie am nächsten Tag nicht in Stress kommen würde, mit der kleinen Tochter und dem Gepäck. Ein Ticket zu Freunden aufs Land. Stattdessen löste sie eine Bahnkarte nach Paris. Und von Paris weiter nach Toulouse. Von Toulouse weiter nach Portecluse, ein Hof und eine Schule mitten im Nichts, sie hatte kaum Erinnerungen daran. Aber an diesem Abend war der Hof plötzlich wieder da. Das große Tor, die alten Bäume, der Brunnen. Der hinkende Hund, den es natürlich schon lange nicht mehr geben würde, aber anders konnte sie sich den Hof gar nicht vorstellen. Die kleine Schule, die ihr so wunderbar vorgekommen war, weil sie plötzlich sein durfte wie sie war, ohne sich mehr ständig zu erklären. Der Martin hatte sie unter seine Fittiche genommen, Flügel rechts und links, ein großer Engel, ohne Sex. Der Martin hatte sie von der Straße geholt und nach Portecluse gebracht. Inkognito. Sie war tatsächlich ab dem Moment in Sicherheit gewesen, in dem sich das Hoftor hinter ihr geschlossen hatte, obwohl es sich in ihr noch jahrelang, jahrzehntelang nach Gefahr angefühlt hatte. Eigentlich hatte sich das nie so ganz aufgelöst, auch nicht nachdem sie schon lange in Berlin lebte, weit weg von allem. Und an diesem Abend, nach der langen online-Konferenz, wollte sie zum Bahnhof spazieren, frische Luft schnappen und ein Ticket lösen, um am nächsten Tag für die Reise mit ihrem Kind weniger Stress zu haben. Auf dem Weg zum Zug war sie in diesen großen dunklen Mantel hineingelaufen. Der Mann kam ganz nah an der Mauer um die Ecke, auf dem schmalen Übergang, der zu den Gleisen führte. Ganz plötzlich waren diese schwarzen Mantelflügel rings um ihren Körper, dieser übergroße Mann mit den stolpernden Beinen zwischen ihren, schon halb über ihr, und der Gestank, nach Schweiß, nach Rauch, nach Alkohol. Sie kotzte dem Mann vor die Füße, statt sich zu bedanken, dass er ihr aufgeholfen hatte. Sie entschuldigte sich nicht, schließlich war sie rechts gegangen, ganz so, wie es üblich war, in Berlin. Und das Kotzen, dafür konnte sie sich erst recht nicht entschuldigen. Es kam so unvermittelt, dass sie selber nur staunend hinterherschauen konnte. Sie hatte weder gegessen noch war ihr schlecht gewesen, als sie vom Computer aufgestanden und zum Bahnhof gelaufen war. Statt zum Automaten zu gehen und ein Ticket für die äußerste Ecke Brandenburgs zu lösen, folgte sie dem Geschmack im Mund zum Reisezentrum der deutschen Bahn und kaufte sich eine Karte nach Paris. In Paris stieg sie am frühen Morgen um, nach Toulouse. In Toulouse sah sie sich nicht um, ging in keine einzige Straße, hob jede Menge Euros ab am Geldautomaten neben dem Gleis, stellte sich vor den Bahnhof und leistete sich eine Taxifahrt aufs Land. Unbezahlbar. Unglaublich teuer. Heutzutage konnte sie sich das leisten. Auch wenn sie nicht an ihr Kind denken durfte. Mit ihr hätte sie doch heute aufs Land fahren wollen. Sie hatte nicht mal ihr Handy mit. Wie lange sie bleiben wollte, wusste sie noch nicht. Sie musste erst mal den Hof finden, die Schule. Vielleicht den Martin, falls er nicht längst gestorben war. Und dann würde sie weiter sehen. Vielleicht konnte ja alles wieder gut werden. Sie hatte doch jetzt ihren Mann und ihr Kind. Sie war doch schon so lange weit weg.